Im Sommer, während in Paris eine grosse Menschenmenge die Bastille erstürmt, wird im seeländischen Arch bei Büren im Schopf vor einem Bauernhaus ein etwa dreijähriges Kind gefunden. Es ist der 6. August 1789, Elisabetha Hofer – ein Name, der vielleicht nachträglich verliehen wurde – wird dem Christen Bachmann in der Gruben, Kirchhöre Zimmerwald in Pflege gegeben und der Staat Bern bezahlt jährlich sechzehn Kronen Unterhalt.
Berns Weg in der Kinderfürsorge
Um die wachsende Zahl ausgesetzter Kinder aufzunehmen, entstehen in vielen grossen Städten Europas grosse Findelhäuser. Der Staat Bern geht bewusst einen anderen Weg. Er setzt auf ein System der dezentralen Unterbringung: die sogenannte «Verdingung». Der Staat bezahlt Bauernfamilien auf dem Land dafür, die Kinder aufzunehmen und grosszuziehen, bis sie für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen können. Oft übertreffen dabei die staatlichen Zuwendungen bei weitem das, was ländliche Gemeinden für die Versorgung ihrer eigenen Armenkinder aufwenden können. Hauptziel ist es, die Kinder zu Mägden und Knechten zu erziehen. Eine Ausbildung in angesehenen Handwerken ist für Berner Findelkinder nicht vorgesehen. Sie sollen ausdrücklich in die unterste Gesellschaftsschicht integriert werden. Aus Sicht der Berner Obrigkeit ist diese Methode sinnvoller als eine Anstaltserziehung. Erstens verhindert sie die Konzentration von Armen in der Stadt und sichert zweitens den Nachschub an billigen Arbeitskräften für die Landwirtschaft. Auch die Angst der Handwerkerzünfte vor Konkurrenz hat wohl eine Rolle gespielt.
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Die Archive erzählen uns nur wenig über das Leben von Elisabetha. Vorhandene Abrechnungen lesen sich wie eine minimale Biografie. 1793: ein Fragenbuch für zwei Batzen. Drei Jahre später ein Zahlenbuch. Elisabetha lernt lesen und rechnen – der Staat investiert in ihre Grundbildung. 1798 dann das Neue Testament für sechzehn Batzen und Medikamente für achtzehn. Woran das Kind erkrankt ist, geht aus den Notizen nicht hervor.
Zwischen Revolution und Kontinuität
Die französischen Truppen besetzen die Schweiz, die Alte Eidgenossenschaft zerfällt, die Helvetische Republik entsteht. In diesem Umbruch stockt die Auszahlung des Kostgeldes an Christen Bachmann. Bis 1802 werden die Rückstände jedoch beglichen. Selbst im Chaos wahrt die Verwaltung eine gewisse Verlässlichkeit. 1801 und 1802 bezahlt der Staat neun Batzen und zwölf Kreuzer Schullohn. Elisabetha ist nun etwa sechzehn Jahre alt. Sie besucht weiterhin die Schule, während um sie herum die politische Ordnung neu verhandelt wird.
Der Moment der Mündigkeit
Am 18. April 1802, es ist Ostern, wird Elisabetha konfirmiert. Sie erhält ein Psalmbuch und ein «Paradiesgärtlein» – ein weit herum bekanntes und verteiltes Gebetsbuch –, zu je vierzehn Batzen. Dieser Moment markiert mehr als nur einen religiösen Übergang. Die Konfirmation bedeutet im protestantischen Kontext den Eintritt ins religiöse Erwachsenenalter, die Fähigkeit, selbst Verantwortung für den eigenen Glauben zu übernehmen.
1803 wird Elisabetha aus dem Kostgeld entlassen. Mit siebzehn Jahren endet die staatliche Fürsorge.
Ob sie jetzt in der Lage ist, sich selbst zu erhalten?
Was Archive verschweigen
Diese Frage bleibt unbeantwortet. Die Rechnungsbücher enden, wo das eigentliche Leben beginnen könnte. Hat Elisabetha eine Stelle als Magd gefunden? Wie Katharina Rupp, ein Findelkind aus Steffisburg, die nach ihrer Entlassung aus dem Kostgeld jahrelang als Magd in Zimmerwald gearbeitet hat?Ob sie sich selbst erhalten konnte? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass ihr eine Chance gegeben wurde.
Quellen:
Kohler, T. (2008). Johann Peter Fündling und Maria Ehrbar : Berner Findelkinder um 1800. Familienforschung Schweiz : Jahrbuch = Généalogie Suisse : Annuaire = Genealogia Svizzera : Annuario, 35. https://doi.org/10.5169/seals-697345