Wenn Geschichte in den Kleinigkeiten wohnt

Die Flucht des «falbroten» Kalbes

Am 18. Mai des Jahres 1789 – während in Versailles die Generalstände zusammentreten und das Ancien Régime seine letzten Atemzüge tut – wird das Leben in Zimmerwald von einem Ereignis gestört, das die Gemüter der Einwohner in Bewegung bringt. Ein sechs Monate altes «falbrotes» Stierkalb, offenbar von unstillbarem Fernweh geplagt, ist verschwunden. Die amtliche Verlautbarung, die uns überliefert ist, hört sich so an: «... ein Stierenkalb entlaufen, dem Vernehmen nach durch den Kühewylwald, gegen Oberscherli, sich begeben»

Der Viehaufseher Hans Streit bekommt die Aufgabe, nach dem entlaufenen Kalb zu suchen. Zusammen mit anderen Bewohnern der Ortschaft begibt er sich auf die Fährte des Tieres. Doch trotz ihrer Anstrengungen bleibt das Stierkalb wie vom Erdboden verschluckt.

In Zimmerwald ist die Sorge um das verlorene Tier gross und die Einwohner sind entschlossen, es wiederzufinden. Sie verbreiten die Nachricht in der Gegend und bieten eine Belohnung für jeden, der das Kalb einfängt oder Informationen über seinen Verbleib hat. Das Leben auf dem Land ist eng mit der Tierhaltung verbunden, und ein verlorenes Stierkalb kann für eine Familie den Unterschied zwischen Existenz und Armut bedeuten.

Epilog

Was aus dem «falbroten» Kalb wurde, verliert sich im Dunkel der Geschichte. Vielleicht fand es in den Weiten um Oberscherli jene Freiheit, die es suchte. Vielleicht aber auch nicht – und endete als stille Mahnung daran, dass nicht jeder Aufbruch in die ersehnte Befreiung mündet.
Und Geschichte schreibt sich nicht nur in Palästen und Parlamenten – manchmal genügt ein sechsmonatiges Stierenkalb und ein verzweifelter Viehaufseher, um die Zeitumstände in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen.

Quellen: Berner Wochenblatt, Nummer 22, 30. Mai 1789
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