Die Schulmeister von Zimmerwald

Ein Sittenbild aus dem 18. Jahrhundert: Zwischen Rute, Ruf und kirchlicher Rechtsprechung

Es ist ein kalter Januartag des Jahres 1701, als Hans Guggisberg, Sohn des Obmanns, vor das Chorgericht von Zimmerwald tritt – nicht etwa als Angeklagter, sondern als Kläger. Sein Widersacher: Christen Bräuchi, der örtliche Schulmeister, ein Mann, dessen Zunge offenbar ebenso scharf geschliffen ist, wie seine pädagogischen Methoden fragwürdig erscheinen. «Unfreundliche Worte» seien gefallen, ja mehr noch – der Schulmeister habe nicht nur ihn, sondern auch seinen Vater, den ehrenwerten Obmann, einen Lügner gescholten.

Was zunächst wie eine alltägliche Nachbarschaftsfehde anmutet, öffnet ein Fenster in eine längst vergangene Welt, in der das Dorfgericht noch über Ehre und Anstand wachte, wo Handschlag und Versöhnung unter Gottes Gnade mehr galten als geschriebene Verträge. Der Schulmeister Bräuchi – man spürt förmlich seine Verlegenheit vor den gestrengen Richtern – bittet um Verzeihung, reicht die Hand zur Versöhnung und verspricht, «allen Grollen und Feindschaft durch die Gnad Gottes gegeneinander fahren zu lassen».

Heinrich Krebs – Der Fall eines Schulmeisters

Doch während Bräuchi mit einer Verwarnung davonkommt, sollte seinem Kollegen Heinrich Krebs aus Niedermuhlern ein härteres Schicksal widerfahren. Krebs, ein Mann, der offenbar die Kunst der «jesuitischen Äquivokation» beherrscht wie andere das Einmaleins. Oktober 1701: Ein mysteriöser Brief taucht auf, in dem behauptet wird, der Schulmeister habe «entwendete Stück» in seinem Besitz – einen Degen, Flinten, einen Rock. Die Anschuldigungen wiegen schwer in einer Gesellschaft, in der der gute Ruf eines Schulmeisters das Fundament seiner Existenz bildet. Krebs jedoch pariert geschickt: Er legt «authentische Zeugnisse von geschworenen Schreibern» vor, die beweisen sollen, dass er die fraglichen Gegenstände rechtmässig erworben habe. Nur der Rock – ach, der Rock! – sei wohl gestohlen gewesen, aber nicht von ihm, sondern von einer Magd, von der er ihn gekauft habe. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Das Chorgericht, in seiner salomonischen Weisheit, bestätigt Krebs zunächst in seinem Schuldienst. Doch der Mann scheint ein Talent für Schwierigkeiten zu besitzen, das seinesgleichen sucht.

Das Heu-Dilemma und der Fall der Barbara Spani

Juni 1703 – Heinrich Krebs steht erneut vor Gericht, diesmal wegen eines doppelten Vergehens. Erstens hat er das Chorgericht belogen, als er behauptet hat, seine Schwägerin Barbara Spani könne «leibshalber nicht erscheinen», während sie zur gleichen Zeit munter zur Predigt nach Belp spaziert ist. Seine Rechtfertigung entlarvt ihn als Mann von schlitzohriger rhetorischer Gewandtheit: Es sei gesundheitlich möglich gewesen, aber «leibshalber nicht», da sie nicht gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein könne.

Diese «jesuitische Äquivokation» – welch herrlicher Ausdruck für das, was wir heute Wortklauberei nennen würden – bringt das Gericht zur Weissglut. Krebs wird «unter die Lügner gezählt und als ein solcher zensuriert».

Zweitens steht der Vorwurf des Heu-Diebstahls im Raum. Rudolf Hoffer, «der Sager im Bach», hat Krebs dabei beobachtet, wie er sich vorsichtig einem Heuschuppen genähert hat, «sich wohl umsah» und schliesslich mit einer Bürde Heu wieder herausgekommen ist – das Verhalten eines Mannes, der weiss, dass sein Tun nicht rechtmässig ist.

Der endgültige Sturz

September 1703 – das Ende einer zweifelhaften Laufbahn. Die «vorgenannten Männer von Balm» sagen unmissverständlich aus: Sie hätten dem Schulmeister keinesfalls erlaubt, Heu aus ihrem Scheuerlein wegzutragen. Schlimmer noch – Krebs habe sie nach der Entdeckung des Diebstahls angefleht, ihn nicht anzuzeigen, «dann er sonst seines Schuldienstes würde entsetzt werden».

Diese Bitte offenbart einen Mann, der sehr wohl um die Tragweite seiner Handlungen weiss, der aber dennoch bereit ist, seine Position aufs Spiel zu setzen für eine Bürde Heu. Das Chorgericht zeigt keine Gnade mehr: «Neben einer guten Remonstranz*» wird ihm der Schuldienst «aufgesagt».

Christen Bräuchi – Ein anderes Kaliber

Während Krebs an seinen eigenen Machenschaften scheitert, kämpft Christen Bräuchi in Zimmerwald mit einem ganz anderen Problem: den Eltern seiner Schüler.
Januar 1702 – eine Szene, die erschreckend modern anmutet. Bräuchi steht vor dem Chorgericht, angeklagt, seine Schulkinder nicht «in gebührender Zucht» zu halten. Die Schule, so der Vorwurf, werde «anstatt einer Tugend-Schul und Pflanz-Garten der Kirchen bald eine Laster-Gruben und Pflanz-Garten alles Mutwillens».

Bräuchis Antwort könnte aus einem modernen Lehrerzimmer stammen: Er dürfe keinen Ernst gebrauchen, da die Eltern ihn sofort «übel angehen» würden, wenn er die Kinder «nach Gebühr abstrafe». Ja, ihm würden sogar Drohungen gemacht. Ein Schulmeister, gefangen zwischen pädagogischen Ansprüchen und elterlichem Widerstand – ein zeitloses Dilemma.

Das Chorgericht reagiert mit bemerkenswerter Klugheit: Es schärft Bräuchi ein, seine Pflicht zu tun, «die Fehlbaren in Gebühr und nach Verdienen ohne Anschreien zu strafen, die Rute, wo vonnöten, zu gebrauchen», verspricht ihm aber gleichzeitig Schutz vor Beschwerden der Eltern.

Epilog einer vergangenen Welt

Die Protokolle enthalten noch eine knappe Notiz aus dem Jahr 1757: Hans Streit, Sohn des verstorbenen Schulmeisters Streit, wird zum Schulmeister von Niedermuhlern gewählt – ein Amt, das nach den Turbulenzen um Heinrich Krebs wohl wieder an Ansehen gewonnen hat.

Diese Geschichten aus Zimmerwald erzählen mehr als nur von individuellen Verfehlungen. Sie zeichnen das Bild einer Gesellschaft im Übergang, in der kirchliche und weltliche Autorität noch untrennbar verwoben waren, wo der Schulmeister nicht nur Wissensvermittler, sondern auch moralische Instanz sein sollte – eine Rolle, der nicht jeder gewachsen war.

Heinrich Krebs, der mit seiner «jesuitischen Äquivokation» und seinem nächtlichen Heu-Diebstahl scheitert, und Christen Bräuchi, der zwischen pädagogischen Idealen und sozialer Realität Schwierigkeiten geschickt überwindet – sie stehen exemplarisch für die Herausforderungen eines Berufsstandes, der schon damals zwischen Anspruch und Wirklichkeit gefangen war.

In ihren Schicksalen spiegelt sich die Menschlichkeit einer Epoche wider, die wir allzu oft nur in ihren grossen Linien wahrnehmen. Hier aber, in den sorgfältig geführten Protokollen des Chorgerichts von Zimmerwald, werden sie greifbar – die kleinen Dramen, die grossen Charaktere, die ewigen Konflikte zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Ideal und Realität.

Remonstranz = offizielle Beschwerde

Quellen: Chorgerichtsmanuale Zimmerwald

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