Heimatlos

Wenn Armut zum Verbrechen wird

Im 16. Jahrhundert setzen die Religionskriege Menschenströme in Bewegung, Verfolgungen treiben Familien in die Heimatlosigkeit, und der Dienst als Reisläufer – jener eidgenössische Export junger Männer als Söldner – reisst soziale Bindungen auseinander. Städtische Ratsmandate dokumentieren Jahr für Jahr eine Zunahme des «Vagantenwesens». 1635 berichtet der sankt-gallische Statthalter in Wil von täglich 1000 bis 1500 Bettlern an seinem Hof – viele davon gesund und kräftig, was in der Wahrnehmung der Zeit das Verbrechen noch vergrössert. Armut ohne sichtbare körperliche Rechtfertigung gilt als moralisches Versagen.

Was folgt, ist kein Akt der Fürsorge, sondern eine Eskalation staatlicher Gewalt gegen jene, die keine Heimat vorweisen können. Im kleinen Bremgarten (AG) werden in einem einzigen Jahr über 200 sogenannte Vagabunden hingerichtet. Hunderte werden ohne formelles Verfahren erschlagen, Tausenden werden die Ohren geschlitzt, sie werden auf der Stirn gebrandmarkt und gefoltert. Die Galeeren Spaniens, Sardiniens und Venedigs füllen sich mit Schweizer Heimatlosen. Zürich und Bern gehen noch weiter: Sie formen aus den Entwurzelten ein eigenes Regiment, das unter Hans Rudolf Werdmüller im Dienste Venedigs auf Kreta von 1645 bis 1669 gegen die Türken kämpft – Kanonenfutter aus menschlichem Abfall.

Im 18. Jahrhundert verschärft sich die Krise. Es existiert eine beträchtliche Schicht nichtsesshafter Menschen, die zwischen etablierter Gesellschaft und vollständiger Rechtlosigkeit gefangen sind: «Korber, Kessler, Spengler, Gewürz- und Pulverträger, Schwummkrämer, Bürstenbinder, Sterzer (Landstreicher), Liederkrämer, Meermannen, Quacksalber, Musikanten.» Die Situation eskaliert so sehr, dass regelrechte Bettlerjagden organisiert werden. Allein 1718 finden in Bern elf solcher Jagden statt, insbesondere nach Morden in Bolligen und im Grauholz durch umherziehende Banden.
Die Situation ist widersinnig: Während die Obrigkeit auf der einen Seite gegen Landstreicherei und Bettelei vorgeht, entstehen durch die rigorosen Ausschlussmechanismen der Gemeinden, die Menschen ohne festen Wohnsitz systematisch abweisen, immer neue Heimatlose. Besonders betroffen sind Frauen, die von Fremden geschwängert werden, sowie deren Kinder – sie verlieren ihr Heimatrecht und werden in die Rechtlosigkeit verstossen.

Der Versuch einer Lösung

1777 entwickelt der bernische Rat eine einzigartige Lösung: die Gründung der «Landsassenkorporation», eines staatsweiten Armenpflegeverbands, der als fiktive Gemeinde fungieren soll. Diese Institution fasst alle – «Hausväter oder Wittwen mit ihren Familien, oder einzelne Personen, als Dienstbotten, Waysen und Fündelkinder» – zu einer Riesengemeinde zusammen.

Die 1780 erlassene «Verordnung, die inkorporierten Landsassen betreffend» regelt diese neue Einrichtung in 17 detaillierten Artikeln. Der Staat übernimmt damit die Rolle einer Ersatzgemeinde und soll für die Armenunterstützung seiner Untertanen aufkommen, während die realen Gemeinden diese aufnehmen müssen, ohne für deren Unterhalt zu sorgen.
(Als Landsassen werden Ansässige bezeichnet, die das Landrecht, aber kein Ortsbürgerrecht besitzen.)

Findelkinder

Findelkinder bilden eine der verletzlichsten Gruppen innerhalb der Landsassenkorporation. Es sind Säuglinge oder kleine Kinder, die von ihren Eltern ausgesetzt werden und deren Herkunft unbekannt bleibt. Ohne Heimatschein und ohne Fürsprecher stehen sie am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie.

Die Verordnung von 1780 erwähnt, dass auch Findelkinder in das Korporationsbuch eingetragen werden. Sie erhalten wie alle anderen Inkorporierten einen «Korporationsschein» als Ausweis, der ihnen eine grundlegende rechtliche Identität als «naturalisierte Untertanen» verleiht.

Ein bemerkenswertes Detail: Waisen und Kinder unter 20 Jahren sind von der jährlichen Steuer auf den Michaelstag (29. September) ausgenommen, mit der sich die Korporation finanziert. Dies zeigt eine gewisse fürsorgliche Haltung gegenüber den Schwächsten in der Gesellschaft.
Die praktische Betreuung der Findelkinder liegt in den Händen der Landschreibereien und örtlichen Amtmänner. Diese sollen dafür sorgen, dass Waisen «mit tüchtigen Vormündern möglichst aus der Korporation selbst versehen werden». Die Vormünder haben die Aufgabe, «die Mittel der Mündel gut zu verwalten» – eine bemerkenswerte Formulierung, die davon ausgeht, dass auch Findelkinder über gewisse Vermögen verfügen.

Besonders aufschlussreich ist Artikel XIII der Verordnung, der die Berufswahl regelt: «Kein Korporations-Genoss von denen so einige Steuren geniessen, soll befugt seyn, als Vater, Verwandter oder Vogt, einen Knaben zu einem Handwerk zu widmen, er habe dann solchen zuerst beim Amtsmann des Orts vorgestellt, und nachher von der Kammer auf das amtliche Schreiben hin, die Bewilligung dazu erhalten, indem Unser ausdrücklicher Wille dahin geht, dass dergleichen Kinder vorzüglich zu dem Dienst bey den Bauren, und zum Landbau überhaupt gezogen werden, diejenigen dann, so keine Steuer erhalten, sollen die Bestimmung ihrer Kinder, jeweilen dem Einzieher des Bezirks anzeigen, damit darüber allezeit eine richtige Controle geführt werden könne.»

Ziel ist es also Findelkinder und andere unterstützte Minderjährige in der Landwirtschaft zu behalten, während bessergestellte Familien ihren Kindern eine handwerkliche Laufbahn ermöglichen können.

Problematische Verwaltung der Landsassenkorporation

Die Landsassenkorporation – auf dem Papier ein fortschrittliches Projekt – scheitert an der Wirklichkeit. Eine «Riesengemeinde», die sich über zwölf Bezirke erstreckt: Die schiere Grösse macht jede Verwaltung unmöglich. Hinzu kommt die Mobilität der Inkorporierten, die zwischen Orten wandern und dabei Steuerforderungen und behördlicher Kontrolle immer wieder entgleiten. Doch das eigentliche Problem liegt tiefer. Trotz ihrer staatlichen Anerkennung als «bernische Untertanen» bleiben die Inkorporierten – darunter auch Findelkinder – in den Augen der Sesshaften das, was sie immer waren: Fremde und unerwünscht. Die Gemeinden erfüllen die Aufnahmepflicht nur theoretisch. Sie wehren sich mit überhöhten Hintersässensteuern gegen die Unerwünschten.

Das Konkordat von 1819, von allen Kantonen ausser Graubünden, Schwyz und Appenzell Innerrhoden unterzeichnet, sollte die Heimatlosenfrage «endgültig erledigen». Ein Schiedsgericht weist die Menschen den Kantonen zu: Wer ein bestrittenes Bürgerrecht nachweisen kann, wird am Wohnort geduldet. Wer gar keines hat, kommt dorthin, wo er seit 1803 am längsten gelebt hat.

Erst das Bundesgesetz vom 3. Dezember 1850, erlassen im Anschluss an die neue Bundesverfassung, bringt eine gesamtschweizerische Regelung. Die föderale Zersplitterung, die jahrhundertelang Menschen ins Niemandsland gestossen hat, wird endlich durch eine nationale Richtlinie überwunden.

Abschliessende Gedanken

Die Landsassenkorporation war ein bemerkenswerter Versuch, Heimatlosigkeit durch staatliche Innovation zu überwinden. Trotz ihres letztendlichen Scheiterns zeigt sie den Willen einer vormodernen Obrigkeit, soziale Probleme systematisch anzugehen. Für die Findelkinder bedeutete sie immerhin eine grundlegende rechtliche Identität und staatlichen Schutz, auch wenn die gesellschaftliche Integration misslang.

Quellen:
- Hochobrigkeitliche Verordnung die inkorporirten Landsassen betreffend Stadt und Republik Bern: 1780, [online] doi:10.3931/e-rara-146208.
- Dubler, Anne-Marie: Die Landsassenkorporation – ein Armenpflegeverband als virtuelle Gemeinde: Wie der Staat Bern im Ancien Régime die Heimatlosigkeit überwinden wollte, in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Bd. 71. Jahrgang, Nr. 04/09, 2009, [online] https://www.bezg.ch/img/publikation/09_4/dubler.pdf.
- Titelbild: [Le chiffonnier éreinté] : [estampe] (2ème état) / JF Raffaëlli: in: gallica.bnf.fr, o. D., [online] Bibliothèque nationale de France https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b531870547?rk=278971;2.

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