Zwischen Scham und Todesurteil

Wie die Bernische Republik 1764 ledige Schwangere zu Verbrecherinnen erklärt
Versuch einer historische Analyse der äusserst strengen Verordnung gegen «Dirnen» und ihre gesellschaftlichen Wurzeln

Es war wohl ein grauer Novembertag des Jahres 1763, als die Schultheissen und Räte der Stadt und Republik Bern ihre Federn spitzten, um ein Dokument zu verfassen, das Frauen das Leben kosten sollte. Nicht auf den Schlachtfeldern Europas, sondern in den dunklen Kammern unverheirateter Mütter sollte fortan der Tod lauern – sanktioniert durch Staatsgewalt, legitimiert durch Moral.

Die «erneuerte Verordnung wider die Dirnen, so ihre Kinder exponieren und aussetzen; und den Kinder-Mord» vom 25. November 1763 – aus heutiger Sicht ein bürokratisches Meisterwerk der Unmenschlichkeit, das 1764 in Kraft tritt – offenbart mit erschreckender Klarheit, wie eine Gesellschaft ihre schwächsten Mitglieder zu Sündenböcken degradieren kann. Dirnen, das sind im Sprachgebrauch der Zeit nicht etwa nur professionelle Prostituierte, sondern schlicht auch ledige Frauen, die ausserehelichen Geschlechtsverkehr haben. Frauen also, die sich der strengen Sexualmoral der protestantischen Republik widersetzen.

Die Logik der Verzweiflung

«Da sich eine Zeit daher ohngeacht unserer heilsamen Verordnungen vom 20. Decembris 1758. und 14. Julij 1763 verschiedene leidige Exempel zugetragen», so beginnt das Dokument mit jener kühlen Sachlichkeit, die Bürokraten eigen ist, wenn sie über menschliches Leid verfügen. Was für die Räte «leidige Exempel» sind, bedeutet für die betroffenen Frauen oft das nackte Überleben in einer Gesellschaft ohne Gnade.

Stellen wir uns vor: Eine junge Magd, vielleicht siebzehn Jahre alt, vom Sohn des Hausherrn geschwängert und anschliessend verstossen. Keine Familie, die sie aufnimmt, kein Vater des Kindes, der Verantwortung übernimmt, keine soziale Absicherung. Nur die wachsende Gewissheit, dass ihre Schwangerschaft sie ins gesellschaftliche Abseits katapultieren würde. Was bleibt ihr anderes übrig, als zu verheimlichen, was nicht zu verheimlichen ist?

Die bernische Verordnung kennt solche Nuancen nicht. Mit der Präzision eines Chirurgen seziert sie verschiedene «Verbrechen» und ordnet ihnen Strafen zu, die von der Ehrlosigkeit bis zum Todesurteil reichen. Besonders heimtückisch: Auch wenn keine Gewaltzeichen am toten Säugling zu finden sind, gilt die Mutter automatisch als Kindsmörderin, sofern sie ihre Schwangerschaft verheimlicht hat.

Ein System der Überwachung

Die gewissenhafte Ausarbeitung eines Überwachungssystems macht das Dokument jedoch zu einem besonders bemerkenswerten Zeugnis seiner Zeit. Hausväter und Hausmütter werden zu Spitzeln erklärt, die «auf ihre Haus-Genossen scharf Acht zu haben» und verdächtige Schwangerschaften zu melden haben. Die örtlichen Chorgerichte – jene kirchlichen Sittengerichte – erhalten weitreichende Vollmachten für Verhöre und Untersuchungen.

Spöttisch und verletzend mutet die Vorschrift an, dass Hebammen zur Zwangsuntersuchung verdächtiger Frauen herangezogen werden sollen. Jene Frauen also, die traditionell Geburtshelferinnen sind, werden zu Instrumenten staatlicher Kontrolle «umgedreht». Die Lächerlichkeit ist kaum zu übersehen: In einer Gesellschaft, die vorgibt, das Leben zu schützen, werden die natürlichen Beschützerinnen des Lebens zu dessen Verfolgern gemacht.

Die Doppelmoral einer «christlichen» Gesellschaft

Aufschlussreich ist auch, was die Verordnung nicht regelt: Nirgends findet sich eine Bestimmung zur Bestrafung der Männer, die diese Frauen schwängern. Die rechtliche Verantwortung des Mannes für die Schwangerschaft wird nicht als eigenständiges Strafvergehen behandelt. Die Strafverfolgung konzentriert sich auf Delikte wie Ehebruch.

Die patriarchale Logik des 18. Jahrhunderts kennt in diesen Fällen nur eine Schuldige – die Frau, die ihre «Ehre» preisgegeben hat. Der Mann hingegen, oft genug in einer gesellschaftlich überlegenen Position, bleibt ungeschoren.

Zwischen den Zeilen: Menschliche Tragödien

Liest man die nüchterne Amtssprache der Verordnung, erahnt man die Tragödien dahinter. Da ist die Rede von Kindern, die «lebendig ausgesetzt» werden, von Leibesfrüchten, die «verbluten und verschmachten». Jeder dieser bürokratischen Begriffe steht für eine menschliche Katastrophe: eine verzweifelte Mutter, ein sterbendes Kind, eine Gesellschaft, die ihre Augen vor der eigenen Verantwortung verschliesst.

Die Verordnung erwähnt auch jene Frauen, die durch «verdächtige Medicamente» ihre Schwangerschaft zu beenden suchen. Ein Hinweis darauf, dass Abtreibungsversuche keineswegs selten sind – und die Obrigkeit sehr genau weiss, mit welchen Mitteln verzweifelte Frauen ihr Schicksal zu wenden suchen.

Ein System ohne Gnade

Die Hinterhältigkeit an der Bernischen Verordnung ist ihre scheinbare Rationalität. Hier wird nicht im Affekt gestraft, sondern mit kalter Systematik ein Regelwerk geschaffen, das keinen Raum für mildernde Umstände lässt. Selbst wenn eine Frau ihre Schwangerschaft nie geleugnet hat, drohen ihr empfindliche Strafen, falls sie unter «verdächtigen und des Kindslebens gefährlichen Umständen» geboren hat.

Die jährliche Verkündigung der Verordnung von der Kanzel – «an dem zweiten Sonntag vor Ostern» – verleiht dem Ganzen eine fast schon groteske Note. Ausgerechnet in der Zeit, da die Christenheit die Auferstehung feiert, wird den Frauen der Gemeinde mit dem Tod gedroht.

Epilog: Die Normalität des Unmenschlichen

Was uns heute als barbarisch erscheint, war damals Ausdruck einer vermeintlich zivilisierten Rechtsordnung. Die Bernische Republik, ein Musterstaat der Aufklärung, sah sich durchaus als progressiv und human. Man berief sich auf das «blasse Licht der Natur» und das «Gewissen», das einem jeden «die Grösse dergleichen Verbrechen vor Augen» stelle.

Dieser Widerspruch – zwischen aufklärerischem Anspruch und menschenverachtender Praxis – macht die Verordnung zu einem erschreckenden Dokument der Zwiespältigkeit menschlicher Zivilisation. Sie erinnert uns daran, dass Humanität keine Selbstverständlichkeit ist, sondern stets aufs Neue erkämpft werden muss.

Die namenlosen Frauen, die unter dieser Verordnung litten, haben keine Stimme hinterlassen. Aber ihr Schicksal spricht zu uns über die Jahrhunderte hinweg – als Mahnung vor der Grausamkeit, die sich hinter den Masken der Moral zu verbergen pflegt.

Über zweihundert Jahre sind seit der Verkündigung jener Verordnung vergangen. Zeit genug, um zu erkennen: Nicht die verzweifelten Mütter waren die Verbrecher – sondern eine Gesellschaft, die Barmherzigkeit als Schwäche und Menschlichkeit als Gefahr betrachtete.

Quellen: Erneuertes Mandat Und Verordnung Wider die Dirnen, so ihre Kinder exponieren und aussetzen; Und den Kinder-Mord Stadt und Republik Bern Bern, 1763 Universitätsbibliothek Bern Persistent Link: https://doi.org/10.3931/e-rara-145925

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