Eine Zimmerwalder Gerichtsangelegenheit
Johannes Pauli, der Schlosser zu Zimmerwald, hat ein Problem: Ein fremder Geselle hat sich aus dem Staub gemacht. Spurlos. Zurückgelassen hat er seine wenigen Habseligkeiten und Schulden über vier Kronen. Was in einer Zeit ohne Einwohnerkontrollen wie ein unlösbares Rätsel erscheint, wird nun zum Gegenstand eines förmlichen Gerichtsverfahrens.
Der unbekannte Schlossergeselle – sein Name bleibt ein Geheimnis, seine Herkunft ungewiss – hat bei Pauli gearbeitet und dabei Schulden angehäuft, die der Meister jetzt einfordert. Vier Kronen mögen heute bescheiden klingen, doch für einen Handwerker des 18. Jahrhunderts stellen sie einen beträchtlichen Betrag dar.
Pauli greift zu einem energischen Mittel: Er belegt die zurückgelassenen Effekten des verschwundenen Gesellen «mit Arrest». Diese wenigen Gegenstände – vermutlich Werkzeuge, Kleidungsstücke oder persönliche Habseligkeiten – werden zur Pfandmasse für die ausstehende Forderung. Ein Akt der Verzweiflung oder kühler Geschäftssinn? Wohl beides zugleich.
Das Gericht setzt alle Hebel in Bewegung, um den flüchtigen Schuldner zu fassen. Mit einer formellen Zitation wird der unbekannte Geselle vor die Audienz geladen – ein juristisches Schauspiel bei dem der Hauptdarsteller höchstwahrscheinlich nie erscheinen wird. Der Termin steht fest: Dienstag, der 3. des kommenden Herbstmonats, nachmittags um zwei Uhr. Gerichtschreiber Wild, in seiner Funktion als «Herrschafts-Herr» zu Obermuhlern, wird über den Fall befinden.
Die Ironie der Situation liegt auf der Hand: wie zitiert man jemanden, dessen Namen man nicht kennt? Dessen Adresse man nicht hat? Dessen Existenz man nur durch vier ausstehende Kronen beweisen kann? Die öffentliche Bekanntmachung gleicht einem Ruf in die Leere, einem Ritual ohne praktischen Nutzen. Dennoch folgt das Gericht seinem vorgeschriebenen Weg, denn die Rechtsprechung verlangt ihre Formen, auch wenn sie ins Absurde führen.
Sollte der Geselle – erwartungsgemäss – nicht erscheinen, wird das Verfahren seinen vorgesehenen Lauf nehmen. «Die Zubekenntnis», also die gerichtliche Anerkennung der Schuld, wird vollzogen werden. Pauli erhält sein Recht, die beschlagnahmten Gegenstände fallen ihm zu, und die vier Kronen gelten als beglichen.
Was bleibt, ist die Geschichte eines namenlosen Wanderers, der durch Zimmerwald zog, beim Schlosser Pauli arbeitete und wieder verschwand und eine Geschichte über die Macht der Bürokratie, die auch das Unmögliche zu vollstrecken sucht.
Und wir? Wir lernen daraus, dass sich manche Dinge in 300 Jahren … erstaunlich wenig geändert haben.
Quellen:
Berner Wochenblatt, Nummer 31, 3. August 1776
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